24 SUIZIDALITÄT
24.2 SUIZIDVERSUCHE
Ziel= das eigene Leben zu beenden
Suizidversuch= final ausgelegte Handlung mit lebensbedrohlichem Potenzial
Parasuizid= Selbstschädigung mit potenzieller, aber nicht intendierter Lebensbedrohung
· Akut: Probleme bestehen erst kurzfristig, Verhaltensauffälligkeiten fehlen
· Chronisch: Probleme bestehen länger, Verhaltensauffälligkeiten fehlen, Befindlichkeit meist beeinträchtigt
· Chronisch mit Verhaltensauffälligkeiten: Probleme bestehen länger, Verhaltensauffälligkeiten in der unmittelbaren Vergangenheit (Stehlen, wiederholtes Weglaufen, Drogenkonsum, Trinkexzesse, körperliche Auseinandersetzungen, Konflikte mit Polzei...)
Häufigkeit:wg. Verzerrungsfaktoren (mangelnde Differenzierung Unfall/Suizidversuch), fehlende umfassende Fallregister..) keine absoluten Zahlen
Schätzungen: Suizid:Suizidversuch= 1:38; Zunahme von Suizidversuchen (Verfügbarkeit von Drogen, zunehmenden gesellschaftlichen Druck, alterstypischen Modelllernen...); Suizidhandlungen bei Kindern unter 12 Jahren relativ selten, Suizidgedanken und –drohungen häufig, B > M; ab Präadoleszenz M:B = 3-9:1; Epidemischer Ansteckungseffekt
Klinik und Diagnostik:
Häufigste Methode= Selbstvergiftung (Intoxikation) v.a. bei Mädchen;
Harte Methoden: Erhängen, Sprung vor Verkehrsmittel, schwere Stich- u. Schnittverletz.
In suizidaler Absicht vorgenommene Selbstverletzungen:
· Oberflächliche Schnittverletzungen: geringe suizidale Absicht,
· Schwere Selbstverletzungen durch harte Methoden, führen eher zu einem Suizid
· Automutilation mit Verletzung z.B. der Genitalien oder Augen bei jungen Menschen selten, eher die Folge schwerer psychiatrischer Störungen
Ort= überwiegend familiäre Wohnung
Keine typische jahreszeitliche Bindung
Psychopathologie:
Nur ein Bruchteil kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung zugeführt
Nur Minderheit psychische Störung; meistsituativeund umweltabhängige Faktoren
Affektive und schizophrene Psychosen mit erhöhtem Suizidrisiko
Ander häufige Diagnosen: Angststörungen, affektive Störungen, Belastungs- und Anpassungsreaktion, Persönlichkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmißbrauch
Untersuchung
· Vorraussetzung= stationäre Aufnahme zur Durchführung der Behandlung
· Exploration möglichst frühzeitig nach Entgiftung in einem separaten Raum
· Angaben des Jugendlichen durch Eltern, Lehrer, Freunde, und andere wichtige Bezugspersonen ergänzen.
Probleme der Untersuchung:
Beängstigende KH-umwelt, abweisende Haltung des KH-Personals, Schuld- und Schamgefühl, Distanz zum Untersucher als einen möglichen Verbündeten der Eltern, Weigerung Hilfe anzunehmen meist unmittelbar nach Suizidversuch, Zusammenarbeit mit Eltern häufig ebenso schwierig; Tendenz der Bagatellisierung und Verleugnung!
Ziele der Untersuchung:
· Aufbau einer Arbeitsbeziehung
· Einsicht in die Ursache des Suizidversuchs
· Klärung der individuellen Probleme
· Diagnostik psychischer Störungen
· Bestimmung der individuellen Verarbeitungsmöglichkeit und Unterstützung
· Klärung der erforderlichen Hilfe
Ernsthafte Suizidabsichten:
· Suizidversuch in Isolation
· Zeitpunkt macht Entdeckung und Intervention unwahrscheinlich
· Vorsorgemassnahmen gegenüber einer möglichen Entdeckung
· Vorbereitung in Vorausschau auf den Tod
· Dritte wurden nicht über die Absicht informiert
· Ausgeprägte Vorsätzlichkeit
· Hinterlegte Nachricht
· Ausbleibende Alarmierung Dritter nach dem Suizidversuch
Untersuchung bei Suizidversuchen:
· Exploration zur Suizidalität
o Vorausgegangene Ereignisse und aktuelle Probleme
o Chronische Belastungen
o Ausmaß der suizidalen Intention
o Art und Umstände der suizidalen Handlung
o Individuelle Verarbeitungsmöglichkeiten und Unterstützung
o Wiederholungsrisiko
o Individuelle und familiäre Einstellung gegenüber weiteren Hilfen
· Allgemeine Exploration
o Vorgeschichte mit Eigen- und Familienanamnese
o Frühere Suizidversuche
o Frühere psychische Störungen
o Aktueller psychopathologischer Befund
· Körperliche Untersuchung
o Interner und neurologischer Status
o Labordiagnostik nach Indikation
Ungünstige Prognosefaktoren:
· Harte Methoden und hohe Intentionalität; geringe Distanzierungsfähigkeit
· Chronisch bestehende und anhaltende Probleme und Verhaltensauffälligkeiten
· Männliches Geschlecht
· Frühere Suizidversuche
· Psychische Störungen, speziell Depression und Substanzmißbrauch
· Alkoholismus in der Familie
· Gestörte Beziehungen zu Familienmitgliedern; frühe Trennung von den Eltern
· Soziale Isolation
· Schlechte Schulleistungen
ÄTIOLOGIE:
Hintergrundfaktoren
1. Schwierige Familienbedingungen: z.B. alleinstehende oder fehlende Eltern, Kommunikationsdefizite, Heimunterbringungen, früher Verlust der Eltern...
2. Psychische Störungen in der Familie: insbes. Alkoholismus u. Drogenmißbrauch
3. Suizidhandlungen in der Familie: genetische Vulnerabilitäten, Modelllernen
4. Kindesmißhandlungen
Probleme und Auslöser:
· Konflikte mit Eltern (v.a. gegengeschlechtl. Elternteil)
· Probleme in der Schule und am Arbeitsplatz (schlechte Leistungen, Beziehungsstörungen mit Lehrern oder Mitschülern, Wunsch die Schule zu beenden
· Freundschaftsbeziehnugen (möglicherweise übermäßige Abhängigkeiten als Reaktion auf wenig entwickelte intrafamiliäre Bindungen)
· Probleme in der Geschwisterbeziehung, soziale Isolation, chron. Krankheiten, psychische Störungen, sexuelle Probleme, psych. Oder körperl Erkrankungen bei den Eltern, Drogenprobleme...(oft Häufung)
Motive
Niedrige Rate an Suiziden bei Kindern: Unreife des Todeskonzepts, kognitive Unreife
Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Verärgerung, Verlassensein, Zukunftsängste...
Überwiegende Anteil impulsiv und wenig vorsätzlich
Modell von Hawton:
· Defizite der Sozialisation führen zu schlechter Impulskontrolle, Stimmungslabilität und gestörtem Realitätssinn
· Modellwirkung (Medien, Chatrooms, Freunde,...)
· enthemmende Wirkung von Alkohol
· Akzeptanz psychotroper Substanzen zur Stimmungsaufhellung
· schnelle Verfügbarkeit von Medikamenten
THERAPIE UND VERLAUF
· Krisenintervention bei akuten Problemen oft ausreichend
· Therapie bei chron. Problemen mit/ohne Verhaltensauffälligkeiten
· Multimodale Behandlung:
o Ambulant/stationär
o Psychotherapie: Einzel-, Gruppen-, Familientherapie
o Psychopharmaka: Neuroleptika bei Psychosen, Antidepressiva bei Depression, Tranquilizer wg. Abhängigkeitspotential und erneuter Intoxikationsgefahrkontraindiziert
Verlauf:
o Überwiegende Anteil psychosozial gebessert
o Kleinere Zahl weiterhin Risikogruppe (höhere Todesrate, geringe Rate von Ehen, erhöhte Scheidungsrate, Kriminalität, Krankenhausaufenthalte...)
o Multiple Suizidversuche= besonders hoch belastete Risikogruppe
o Prognose: bis 50% erneut Suizidversuche; einige sterben später an SV
24.3 SUIZID
Verzerrung durch Fehldiagnosen (Unfall) bei mangelnder Sensibilität für die Möglichkeit bzw. Zurückhaltung bzgl. Zuschreibung wg. Stigma, Religion...
In westl. Industrieländern seit 60er/70er Jahren Zunahme; v.a. bei männlichen Jugendl.
Harte Methoden (Erhängen, Erschießen etc.) dominieren; Verfügbarkeit der Mittel wesentlich
Bei Mädchen Ausmaß der psychischen Störung größer
BEDINGUNGSELEMENTE:
mehrere Belastungsfaktoren:gestörtes fam. Milieu, Auflösung von Bindungen, psychische Störungen bei anderen Familienmitgliedern (Prädisposition, Mangel an Zuwendung, Modelllerneffekte, Überforderung)
Prävalenz für psychische Störungen deutlich erhöht: 1/3-1/2 der Fälle; affektive Störungen, dissoziale Störungen, Substanzmissbrauch, PS, schizophrene Psychosen,
früherer Suizidversuch erhöht Risiko
PRÄVENTION VON SUIZIDHANDLUNGEN:
Primären Prävention:frühzeitige Identifizierung und Behandlung von sozial schwachen und gestörten Familien sowie psychischen Störungen, Sensibilisierung für die Probleme junger Menschen
Sekundärprävention:Betreuung von Suizidgefährdeten