10 BEWEGUNGSSTÖRUNGEN
10.1 TICSTÖRUNGEN
10.1.1 DEFINITION, KLASSIFIKATION UND HÄUFIGKEIT
nichtrhythmische Bewegungen und/oder Lautproduktionen; plötzlich einschießend, repetitiv, nicht vom Willen gesteuert, zwecklos, auf einige Muskelgruppen beschränkt; durch Spannung verstärkt;
· Isolierte (einfache) remittierende Tics: muskulär- Grundschulater- <1 Jahr- fluktuierend, remittierend
· Multiple (komplexe) Tics: muskulär- gesamtes Kindesalter- mehrere Jahre- fluktuierend, ab Adoleszenz rückläufig
· chronisch-persistierende motorischeTics: muskulär- Kindesalter- meist lebenslang- chronisch persistierend
· Gilles-de-la-Tourette-Syndrom:muskulär und vokal- gesamtes Kindesalter- meist lebenslang- chron. rezidivierend;neben den motorischen Tics Vokalisationen mit häufig obszönem Inhalt (Koprolalie)
Häufigkeit: 5-24%; Grundschulalter 4-12%; Prävalenz f. chron. Ticstör. 3-4%; Tourette-S. 0,05-3%; B:M=3:1;
· VorübergehendeTicstörung (F95.0)
· ChronischemotorischeodervokaleTicstörung (F95.1)
· Kombiniertevokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom, F95.2)
· SonstigeTicstörung (F95.8)
· NichtnäherbezeichneteTicstörung (F95.9)
10.1.2 KLINIK UND DIAGNOSTIK
motorische Tics: an allen Körperteilen möglich, mit absteigender Position am Körper nimmt die Häufigkeit ab; Lokalisationswechsel sind möglich; durch bewusste Kontrolle für Minuten bis Stunden willentlich unterdückbar; evtl. sensomotorisches Vorgefühl, durch Tic kurze Erleichterung;
Komorbidität: häufig; emotionale Störungen (Angst, depressive Verstimmung, hypochondrische Symptome), dissoziale Störungen (Wutausbrüchen, Ungehorsam), frühkindlich entstandene Hirnfunktionsstörungen, HKS, Zwangsstörungen, Angststörungen, Entwicklungsstörungen, Lernstörungen, Schlafstörungen, Selbstverletzungen
Diagnostik: Exploration der Symptomatik, Anamnese, Komorbiditäten!!!
· Exploration von Patient und Eltern, frühereArztberichte, evtl. InformationenderSchule:Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, Zwangsstörung, Lernstörung, EmotionaleStörung (z.B. Trennungsangst), Soziophobie, Schlafstörung, Autismus-Spektrum-Störung (schizoide St.), Stottern
· Apparative, Labor- und Testdiagnostik: internistische und neurologischeUntersuchung, testpsychologischeDiagnostik (z.B. Schulschwierigkeiten), EEG zumAusschlusseinerEpilepsie; Anti-Streptolysintiter(beizeitlichemZusammenhangmitOtitis media/Scharlach)
· Exploration Eltern/ PatientsowieBeobachtung in derUntersuchungssituationhinsichtlichHinweisen auf: Epilepsie, Blepharospasmus, Dystonien, Chorea, Ballismus, Myoklonus, Stereotypien, Manierismen, Konversionsstörungen, KomorbideStörungen
· ChromosomenuntersuchungbeigenetischerBelastung
· CCT/ MRT (fMRT/MRT/PET/SPECT nurbeispez./wissenschaftl.Fragestellung)
HilfreicheMaterialien:
· Yale Glabale Tic-Schweregrad-Skala
· Yale Tourette-Syndrom-Symptomliste
· Fremd- und Selbstbeurteilungsbogen (FBB/SBB-TIC) des DISYPs-II
Tourette-Syndrom:motorische Tics + Vokalisationen
Begleitsymptome:Kopropraxie (obszöneGesten), Echolalie (WiederholungsprachlicherÄußerungen von Gesprächspartnern), Echokinese und Echopraxie (Imitation derBewegungenanderer), Palilalie (WiederholungdereigenenÄußerungen), Zwangsstörungen, SVV
DD: Dystonien (z.BBlepharospasmus), choreiformeBewegungsstörungen, Hyperkinesien (Tics auf kleineGruppe von Muskelnbegrenzt), Myoklonien (EEG, EMG), Hirnstörungen, Stereotypien, Zwangsstörungen
Tic:
· plötzlichkurz
· fragmentierteBewegung
· sensomotorischesDranggefühl
· nichtmit Angst verbunden
· ich-synthon
· unwillkührlich (Cluster-Reihen)
· BeginnGrundschule
· Schwankend
· AuchwährendSchlaf
Zwang:
· Ritualisiert
· Zielgerichtet
· Gedanken/Vorstellungen
· Mit Angst verbunden
· Ich-dyston
· Willkürlich (zyklisch)
· BeginnnachGrundschule
· GeringeVeränderungüberZeit
· NiewährendSchlaf
Merkmal TIC:
· Augenrollen
· Fokussierung auf Tic-Kontrolle
· Tic-Wiederholung (wg. Nachgefühl)
· Übertriebener Tic
· Trippelschritte
· Nackenverziehen
· KrampfhaftesGrimassieren
· Schleuder-Tics
· Zitter-Tics
· Monotone Tics (rhythmisch)
· Tics imSchlaf
AbzugrenzendeStörung
· Absencen
· Aufmerksamkeitsproblem
· Zwangsphänomene
· Imitation/Somatisierung
· MED-Akathisie/juveniler Parkinson/Zwang
· Dystonie/MED-Dyskenesie
· Blepharospasmus
· Chorea
· Myoklonus
· Stereotypie
· Restless-legs/Rolando-Epilepsie/Parasomnien
10.1.3 ÄTIOLOGIE
· NeurobiologischenAbweichungen des sensomotorischenRegulationssystems, durchgenetischeUmweltfaktorenbedingt; Hemmungsdefizitekortiko-subkortikalerRegelkreise (Basalganglien, Thalamus, Motorkortex, frontalerKortex); Folge: SteigerungunwillkürlichermotorischerAktivität; ÜberempfindlichkeitderDopaminrezeptoren;
· Modell von Rothenberger: ungenügendeHemmung/KoordinationneuronalerEntladungen in den Basalganlien (Striatum) >thalamokortikaleoszilatorischeDysrhythmie>mangelndeneuronaleHemmungimsensomotorischen Cortex; inhibitorischeKompensation auf fronto-kortikalerEbenemöglich, um Tic zuverhindern
· GenetischeVerursachung: polygenerErbgang; homologefamilienanamnestischeBelastungnichtselten
· DopaminergeÜberfunktionderkortiko- und nigrostriatärenBahnen; Wirksamkeit von Antipsychotika (bes. BeimTourette-S.);
10.1.4 THERAPIE UND VERLAUF
◦ Aufklärung und BeratungderBezugspersonen(IdentifizierungmöglicherSpannungen, Verständnisfür die Symptomatik, ihremöglicheVerstärkungunter Stress sowieihrerzeitlichbegrenztenUnterdrückbarkeit, Symptomatiknichtzubeachten)
◦ Pharmakotherapie:(eineinzigesoffiziellzugelassenesMedikamentzurBehandlung von Ticstörungenist Haloperidol. WegendessendeutlicherunerwünschterArzneimittelwirkungistesschonlangenuralsMitteldritter Wahl eingeordnet; d.h. aber, dassi.d.R. einemedikamentöseBehandlungderTicstörungen "off-label" imSinneeinesindividuellenHeilversuchsstattfinden muss.):
absolute Indikation:Tourette-Syndrom, Tics nach Gabe von Stimulanzienohne Remission nachAbsetzenderMedikation, vokale Tics, längerals 1 Jahrpersistierende Tics, Tics in KombinationmitZwangssymptomenbzw. AutodestruktivenVerhalten
◦ Tiapridund Sulpirid(II)(Medikamentderersten Wahl), das beiguterVerträglichkeit in einschleichenderDosierung von 2-5-10 mg/kg/KG wochenweisegesteigertwerdenkann. Hierbeiistinsbesondere auf eintretendeMüdigkeitsowieKreislaufschwierigkeitenzuachten.
◦ Risperidon (0,5-4 mg/Tag) (Mittelzweiter Wahl)
◦ Haloperidol (0,25-4 mg/Tag) und Pimozid (0,5-4 mg/Tag) (Medikamentedritter Wahl) (II), die (guteVerträglichkeitvorausgesetzt) wochenweise in Schritten von 0,25-0,5 mg gesteigert; extrapyramidale NW
◦ Methylphenidatkann die Ticsymptomatik in 5-10% derFälleverstärken, manchmalaberauchverbessern (III)
◦ medikamentöseBehandlungmindestensüber 12 Monate;danachEntscheidungüberevtl. Fortsetzung (u.a. Rebound-EffektebeiplötzlichemAbsetzen,SpätdyskinesienbeilangfristigerEinnahme)
◦ Überprüfung des VerlaufsderSymptomatik und derMedikamenten-verträglichkeit in regelmäßigenAbständen von 4-8 Wochen
◦ Verhaltenstherapie:SymptomzentrierteVerhaltenstherapie (einschl. Entspannungstraining) kannHäufigkeit und Intensitätder Tics verringern und zielt auf einSelbstmanagementzurKontrolledermotorischen und vokalen Tics (IV)
negativenmassiertenÜbungen, Selbstbeobachtung, Entspannungs-techniken, operanteKonditionierung, Selbstkontrolltechniken
◦ BehandlungderkomorbidenStörungen:KombiniertePharmakotherapie, andereverhaltenstherapeutischeTechniken, Psychotherapie, sozialesKompetenztraining.
Verlauf: meisten Tics vorübergehend- Tage bis Wochen;
Spontanremission: einfacher Tics 50-70%, Tourette-Syndrom 3-40%
Persistierende Tics häufiger bei retardierten Kindern/ zusätzlicher Epilepsie
Multiple Tics häufig im Alter von 12-13 J. aufgegeben;
10.2 STEREOTYPIEN UND AUTOMUTILATION
10.2.1 DEFINITION, HÄUFIGKEIT UND KLINISCHES BILD
· SchwereAutomutilation: Psychosen, Enzephalitis (Gehirnentzündung), geistigerBehinderung, schizoiderPersönlichkeitsstörung
· Stereotype AutomutilationvorwiegendbeigeistigBehinderten in InstitutionenAls Symptom erscheintsiebei: Autismus, Zwangsstörungen, Schizophrenie, Epilepsie, akutenpsychotischenZuständen, psychoorganischenZuständen.
· Oberflächliche und mittelschwereAutomutilationistimpsychiatrischenAlltag am bekanntesten: Depersonalisation, multiple Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, Angststörung, Essstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Therapie bei geistig Behinderten: Lithium, Carbamazepin, Opioidantagonisten Naltrexon
10.3 UMSCHRIEBENE MOTORISCHE ENTWICKLUNGSSTÖRUNGEN
10.3.1 DEFINITION, KLASSIFIKATION UND HÄUFIGKEIT
schwerwiegende Beeiträchtigung der Entwicklung der motorischen Koordination, nicht allein durch Intelligenzminderung oder eine umschriebene angeborene oder neurologische Störung erklärbar; Ungeschicklichkeit mit einem gwissen Grad von Leistungsbeeinträchtigungen bei visuell-räumlichen Aufgaben
Test zur Erfassung der Fein-und Grobmotorik: 2 Standardabweichungen unter Altersnorm;
keine neurolog. Störung, IQ > 70, interferiert mit Schulerfolg/Alltagsaktivitäten
Developmental Coordination Disorder DCD; Minor Neurological Dysfunction; Minal cerebral Dysfunction; frühkindliche Hirnfunktionsstörungen;
Divergierende Definitionen > keine Prävalenzraten; Schätzungen 10-15%
KLINIK UND DIAGNOSTIK
· Abweichung von der normalen Bewegungsentwicklung des Säugling/Kleinkindes (Meilensteine der Entwicklung);
· Unbeholfenheit bei feinmotor. (Zeichnen, Konstruktionsspiele) sowie grobmotor. (Laufen, Treppensteigen, Ballfangen) Fertigkeiten;
· Hypotonie der Muskulatur bei normalen MER und normaler Sensibilität
· Teils mit Artikulationsstörungen
· Dyskenisien mit assoziierten Mitbewegungen (soft signs)
· Auffälligkeiten der perzeptiven Funktionen und der sensorischen Integration
· Resultat häufig Schulschwierigkeiten u. Lernstörungen
Komorbidität: HKS (HKS + motor. Entwicklungsstörung = frühkindliche Hirnfunktionsstörung), Asperger-Syndrom, Sprachentwicklungsstörung, Tourette-Syndrom, Angst und Affektstörungen, Schizophrenie
Diagnostik:
· Prä-, peri, postnatale Risikofaktoren, Entwicklungsverlauf, Meilensteine
· Entwicklungsneurologische Untersuchung (Zürcher Neuromotorik nach Largo, Motoriktest MOT 4-6)
· Koexistierende Psychische Störungen
· Neurologische Störungen, Seh- und Hörstörungen ausschliessen
Motoskopische Untersuchung und Befunde (nach Neuhäuser 2001)
· Sitzen
· Langsitz: erschwerte Hüftbeugung, kompensatorische Lendenkyphose, Halslordose, Beinflexionund Innenrotation, Spitzfußtendenz bei Vorgreifen zu den Zehen
· Seitsitz: asymmetrische Gesäßbelastung, Seitflexion der Lendenlordose
· Kniestand: Hüftbewegung, Hüftstreckung, führt zum Anheben der Unterschenkel mit Lendenlordose
· Kniegang: vermehrt Hüftbeugung, Adduktion der Beine, Knieflexion, Dorsalflexion der Füße
· Aufstehen: Bein mühsam nach vorn gesetzt, Gleichgewicht instabil
· Stehen:
· Ruhig stehen: asymmetrische Körperhaltung, Kopfneigung, vermehrt Bewegungen
· Augen zu: Unsicherheit, Fallneigung, Absinken oder Pronation bei AVHV
· Gehen:
· Einfach gehen: Asymmetrien, Mitbewegungen
· Strichgang: vermehrte Innenrotation und Adduktion der Füße, Überkreuzen, Abweichen, ausfahrende Gleichgewichtsreaktion, athetotische Bewegungen
· Zehengang: Schleifen, Zehenkrallen
· Fersengang:Vorfuß klebt am Boden
· Einbeinig Hüpfen: ungeschickt, unsicher, Seitendifferenz
· Hampelmannsprung: eckig, unelastisch, unkoordiniert
· Scherensprung: unkoordiniert, nicht möglich
· Handfunktion:
· Diadochokinese: Dysdiadochokinese, assoziierte Reaktionen
· FNV: Abweichen, Tremor
· Finger-Finger-Versuch: Abweichung, unsicher
· Finger-Daumen-Versuch: unsicher, erschwerte Ausführung, langsam
· AVHV: Innenrotationvon Arm und Hand
· Seitwärts vorhalten: Absinken eines Armes, choreatiforme Bewegung, Tremor, Bajonettfingerstellung, erschwertes Heben
10.3.3 ÄTIOLOGIE
· Genetische Disposition (Komorbidität mit HKS, Zwillingsstudien, fam. H.)
· Prä- und perinatale Risikofaktoren
· Umwelt: in förderungsorientierten und anregungsreichen Umgebung eher Kompensation
10.3.4 THERAPIE UND VERLAUF
· Psychomotoriktherapie: intermediäre Form zw. Physio- und Psychoth.
· Ergotherapie: sensorische Integration (vestibuläre Dysfunktion – Schaukeln oder Drehen für bessere Stabilität)
· Therapie koexistierender Störungen (PT, VT, Med.)
· Mehrdimensionale Behandlungsansätze mit kontinuierlicher Begleitung und Beratung der Eltern
Verlauf: meist Remission in der Adoleszenz, Befunde bei Mädchen schneller besser, Teil der Betroffenen Persistenz bis ins Jugend/Erwachsenenalter; Tätigkeitsfelder, in denen neuromotorische Defizite weniger auffallen